Das Warten auf die Gastfamilie war ein sich ewig dahinziehender Zeitraum, der einfach kein Ende haben wollte. Jeden Mittag nach der Schule schnell mal in den Briefkasten geschaut, auch sonntags, obwohl ich sehr wohl wusste, dass wir keine Post bekommen würden. Und dann kam der lang ersehnte Brief doch tatsächlich, als ich es am wenigsten erwartet hatte, an einem ganz normalen Samstag, als ich eigentlich schon los wollte zum shoppen. Natürlich hat mir das nichts gesagt: Erdeven und Carnac. Es sollten aber die beiden Städte sein, die bald mein neues Zuahuse darstellen würden: In der ersten sollte ich wohnen, in der zweiten zur Schule gehen. Also schnell mal Google Maps angemacht und dann kam die riesen Überraschung: Meer. Als ich weiter rauszoomte, kam der Strand in Sicht, dann Erdeven. Das Meer nur 1 km von meinem zukünftigen Zuhause entfernt! Ich war so glücklich oder besser gesagt contente, dass ich nach dem langen Warten doch noch so eine tolle Platzierung vier Wochen vor dem Abflug bekommen habe.
Ende August ging es dann vom Frankfurter Flughafen los ins Abenteuer Ausland. An Frankreichs Verkehrsknotenpunkt Charles de Gaulle in Paris ging ich dann weiter zum Zug, der mich in die Bretagne bringen sollte. Ich wusste von into, dass ich das erste Wochenende nicht bei meiner Gastfamilie wohnen könnte, weil diese bei der Hochzeit des Bruders meines Gastvaters war. Ich wohnte also zunächst bei einer „Übergangsfamilie“, die mich sehr herzlich aufnahm und mir schon mal die besonders schönen Plätze von Carnac zeigte. Vielleicht kennt es der ein oder andere es aus dem Urlaub. Im Sommer ist es eine touristische Hochburg, im Winter, wie ich später noch erfahren sollte, eher leer aber trotzdem genauso schön. Ich war dennoch super aufgeregt, als mich schließlich meine dauerhafte Gastfamilie abholte. Ich hatte bereits Fotos gesehen, aber es war trotzdem ganz anders als ich es mir vorgestellt hatte. Noch viel besser! Meine Gastmutter und meine Gastschwester nahmen mich also mit nach Hause und da wurde es erst richtig bunt. Ich fand zuhause meinen kleinen Gastbruder Maximilien (11 Jahre), meinen Gastvater, dessen Kinder aus erster Ehe Laëtitia und Pierre (beide schon an der Uni und nur an diesem Wochenende mal kurz zuhause) und dann noch 2 Katzen, die sich durch das Kofferchaos schlängelten. Ich habe das liebe Durcheinander sofort ins Herz geschlossen. Es war einfach total toll in so eine Großfamilie hineinzufallen und sofort am Familienleben teilzuhaben. Das typische französische Abendessen. Hmm. Meine Gastschwester (14 Jahre) machte mich mit ihren Freunden bekannt und wir genossen die letzten Ferientage am nah gelegenen Strand. Denn wir wussten alle, dass ein hartes Schuljahr auf uns wartete. Mein erster Schultag war, wie es wohl jeder erwartet, sehr spannend. Meine Gastschwester ging noch mit mir zu den Listen, auf denen steht in welcher Klasse man war. (In Frankreich werden die Klassen jedes Jahr gemischt, man kennt also sehr viele Leute aus der ganzen Stufe) Wie ich schon wusste, waren wir nicht in der selben Klassen, weil die Partnerorganisation extra darauf geachtet hat, damit wir beide in der Schule nicht unbedingt die gleichen Freunde haben um uns nicht 24 Stunden am Stück auf der Pelle zu sitzen. Also alle Mann ins Klassenzimmer und dann erst mal den Stundenplan anschauen. An allen Tagen außer mittwochs Unterricht von 8.25 Uhr bis 16.20 Uhr. Am Mittwoch nur 3 Stunden von 8.25 Uhr bis 11.20 Uhr. Auf den ersten Blick ist das vielleicht sehr viel Schule auf einmal für einen deutschen Schüler, aber nach den ersten Tagen war es schon ganz normaler Alltag und es war überhaupt kein Problem mehr.
Meine größte Sorge war es, dass sich die Freundeskreissuche nicht so einfach gestalten würde, und dass die Leute mich vielleicht nicht mögen würden. Aber das war im Nachhinein das Schwachsinnigste, was ich mir vorstellen konnte. Die Leute waren total nett. Ein paar Mädchen haben mich sofort angesprochen und mich zu Deutschland ausgefragt, bei wem ich wohne, was meine Hobbies sind, etc. Und mit ihnen bin ich dann gleich am ersten Mittag auch in die Kantine gegangen und habe mit ihnen gegessen. Ich hatte bevor ich nach Frankreich gegangen bin fünf Jahre Französischunterricht, aber ich kann auch jedem, der nur zwei Jahre gelernt hat empfehlen zu gehen, denn die Leute waren alle total beeindruckt von meinen Kenntnissen, die ich nicht unbedingt als so toll einschätze. Die Mädchen wurden meine Freundinnen und auch mit deren Freunden verstand ich mich super! Dadurch, dass das Collège nur 400 Schüler hatte, kannte ich nach wenigen Wochen fast alle aus meiner Stufe. Der neue Freundeskreis war geschaffen.
Einen kleinen Heimweh Zwischenfall gab es dann trotzdem. Ich hatte nicht am Flughafen geweint, als ich mich von meiner Familie und meinen Freunden verabschieden musste und ich hatte die erste Woche auch sehr gut überstanden, aber nach den ersten zwei Schultagen habe ich dann erst richtig realisiert was das alles eigentlich war. Als meine Gastmutter das mitbekommen hat, kam sie gleich zu mir und ich habe mich bei ihr ausgeheult - sie hatte totales Verständnis dafür und hat immer wieder gesagt, dass man sich für seine Tränen nicht schämen soll, weil es ganz normal ist, wenn man so weit weg von Zuhause ist mit 15 Jahren. Danach ging es mir aber so viel besser! Es ist einfach unglaublich wichtig nach der Eingewöhnungsphase, in der alles noch neu und spannend ist, dem Alltag auch stand zu halten. Man denkt dann vielleicht drüber nach, was man gemacht hat, wieso man seine Freunde zurückgelassen und alles aufgegeben hat. Aber das habt ihr nicht! Es ist eine unglaubliche neue Erfahrung, die ihr da machen könnt, welche die anderen, denen der große Schritt zu gewagt war, nicht gemacht haben und ihr seid ihnen um einiges voraus. Und wenn ihr mal so eine Heimwegattacke habt, dann fresst das nicht in euch hinein. Geht zu den Leuten, die offen für all das sind, die mit euch reden, euch auf andere Gedanken bringen und so weiter.
Ich würde mal sagen, nach zwei Monaten fühlte ich mich so heimisch, dass ich wirklich sagen konnte: „Das ist mein zweites Zuhause“. Ich habe das einmal gemerkt, als meine Gasteltern für ein Wochenende zu zweit verreist waren und meine Gastoma und -opa auf uns aufpassten. Ich kam also mit meiner Gastschwester vom Bus, wir schleuderten unsere Taschen in die Ecke und es ging erst einmal zum „Goûter“. Für alle die (noch) nicht wissen was das ist: eine Art Zwischenmahlzeit so gegen 16/17 Uhr, weil es von Mittagessen um 12 Uhr bis zum Abendessen um 20 Uhr zu lange ist. Im eigentlichen Sinne ist es ein Stück Baguette mit Schokolade drin. Aber das moderne französische Kind nimmt natürlich Nutella und auch lieber Toast oder Pain au lait (Milchbrötchen). Also auf jeden Fall spürte ich einfach an diesem Nachmittag wie normal es sich anfühlte genau das zu machen, dass ich einen Monat vorher noch nicht mal kannte. Es war einfach ein unglaublich tolles Gefühl.
Nochmal zur Schule: Die Lehrer waren nicht, wie man mir vorher gesagt hatte, total streng. Die meisten waren sehr nett zu mir, hatten Verständnis wenn ich etwas nicht verstand und fragten öfter mal wie dies oder jenes in Deutschland sei. In Histoire-Géographie nahmen wir den Ersten und den Zweiten Weltkrieg durch und ich musste dann öfter mal etwas übersetzten was auf den deutschen Propagandaplakaten stand, die in unserem Buch waren. Die Lehrer waren trotzdem eine Respektperson. Die Klasse war total still, als der Lehrer was anordnete, aber man konnte nichts desto trotz mit ihnen reden und lachen. Vor allem mein Mathelehrer war total lustig und hat immer Scherze mit uns gemacht. Man konnte sich auch total auf sie verlassen. Wenn ich als Austauschschüler ein Problem hatte, dann bin ich zu meiner Klassenlehrerin gegangen und diese hat sich gleich drangemacht, um mir zu helfen. Zum Beispiel am Ende des Jahres, als alle anderen das Brevet geschrieben haben, also das Diplom für den Abschluss des Collège. Dieses Diplom dürfen nur Schüler mit französischer Staatsangehörigkeit schreiben, also ich nicht. Da hat meine Klassenlehrerin sich gleich darum bemüht irgendein anderes Diplom oder so etwas in der Art zu finden, damit ich wenigstens irgendeinen Abschluss habe. Und sie hat dann auch etwas für mich gefunden: Der DELF (Diplôme d’Études en Langue Française).
Carnac und Umgebung sind ja an sich eine sehr beliebte Urlaubsregion. Im Sommer gibt es einen riesigen Wochenmarkt, am Strand sind alle Geschäfte offen und man sieht massenhaft Autokennzeichen aus Deutschland, Holland, Luxemburg und dem Rest Europas. Aber im Winter ist es ganz anders. Der Wochenmarkt besteht nur noch aus 4 Ständen mit Brot, Wurst, Fisch und anderen Lebensmitteln, die Strandpromenade ist wie ausgestorben. Und es ist trotzdem wunderschön auch das einmal mitzuerleben. Wir kennen Urlaubsorte nur so wie sie im Sommer vorzufinden sind, aber die Einheimischen und ich deshalb auch, genießen die Monate ohne die Touristen, im Winter am Strand spazieren zu gehen ist genauso schön wie im Sommer und wenn die ersten Sonnenstrahlen es zulassen kann man dann schon mal ins Meer gehen. Bei uns war das an Ostern. Da waren wir das erste Mal im Wasser für dieses Jahr. Meine Gastfamilie ist sehr aktiv gewesen. Meine beiden Gastgeschwister sind begeisterte Reiter und so verbrachte ich auch die einen oder anderen Stunden im Reitstall oder auf Turnieren. Am Anfang war es etwas gewöhnungsbedürftig sonntags so früh aufzustehen um nach wo auch immer aufs Turnier zu fahren. Aber die Leute, also die Eltern, die anderen Reiter und alle waren total nett und sie wurden auch bald alle Freunde von mir. Wir wurden zu einer ganz großen Familie und es tat mir total leid, als ich am Ende nicht mit zu den französischen Reitmeisterschaften mitfahren konnte. Aber meine Gastfamilie hat auch mir ermöglicht meine Hobbies weiter zu machen. Sie haben mich in einem Volleyballverein angemeldet und immer vom Training abgeholt und sind zu den Spielen gekommen. Das Familienleben ist in Frankreich einfach super wichtig. Aber ihr müsst trotzdem nicht denken, dass man nie Freizeit mit seinen Freunden hat, das ist natürlich auch drin. Ich fand es besonders schön mit meinen Freunden nach der Schule zum Strand zu gehen und einfach dort ein bisschen unter der Sonne zu entspannen.
In meinem Jahr gab es zwei absolute Höhepunkte. Alles war toll, aber diese zwei Momente behalte ich als besonders schön. Es ist zum ersten Weihnachten: Die ganze Familie, also wirklich die ganze riesige Familie kam zur meiner Gasttante in einen kleinen Ort nahe Paris. Wir waren 15 Leute und sind 7 Tage geblieben. Am Weihnachtstag selbst haben wir dann gut gegessen (insgesamt vier Stunden) und haben dann die Geschenke ausgepackt. Und da habe ich mal wieder gemerkt, dass die gesamte Familie mich als Mitglied akzeptiert hat. Sie haben mir auch Sachen geschenkt und… ah ich kann es überhaupt nicht richtig beschreiben wie toll das war! Die andere schöne Zeit waren die letzten Tage und Wochen. Es war zwar super traurig, weil der Abschied nahte, gleichzeitig hatte ich jedoch viele sehr lustige und superschöne Momente. Z. B. hatte meine Gastmutter eine Überraschungsfeier für mich organisiert. Sie hat mich abends mit meiner Gastschwester bei einer Freundin geparkt und als ich dann am nächsten Tag nach Hause kam, waren da alle Leute, die ich während meines Jahres lieb gewonnen habe - Freunde, Familie, Bekannte. Und wenige Tage später hat dann auch noch eine Freundin eine riesige Überraschungsparty organisiert, zu der die ganze Stufe eingeladen war. So konnte ich mich nochmal von allen verabschieden. Und meine Klasse hat mir dann noch ganz viele süße Geschenke gemacht und am letzten Schultag waren wir mit der gesamten Stufe nach dem Unterricht am Strand.
Die Leute haben mir damals schon so gefehlt und ich musste 1000 Mal versprechen, dass ich bald wieder kommen würde. Und das ist gerade einer der Punkte wofür ich Frankreich als Austauschland gegen kein anderes austauschen würde: Ich kann jederzeit wieder hinfahren. Der nächste Besuch steht schon zu Weihnachten an, weil ich einfach nicht mehr bis zu den Sommerferien nächstes Jahr warten konnte. Ich vermisse einfach meine Freunde und meine Familie ganz schrecklich. Außerdem ist Frankreich ein sehr faszinierendes Land. Wir denken vielleicht, dass wir Frankreich schon kennen, weil wir schon alle mal dort im Urlaub waren, aber das ist nicht wahr. Es ist etwas total anderes zwei Wochen oder zehn Monate dort zu leben. Man erlebt das einzigartige Familienleben, die Kultur, die Sprache (oh ich liebe sie!!) und natürlich das Essen. Also an alle Frankreichliebhaber oder alle die es noch werden wollen: Frankreich ist ein super Austauschland, auch wenn es nicht viele gibt, die sich dafür entscheiden. Die meisten wollen zwar doch Englisch lernen, aber auch Französisch ist toll und nicht jeder kann diese Sprache. Also wieso nicht? Ich kann euch nur zu einem Austauschjahr mit into in Frankreich raten, denn es war das beste Jahr meines Lebens. Alors qu’est-ce que vous attendez? Ne rêvez pas, faites-le!