Es waren die sommerlichen Wetterverhältnisse, die mich auf den Boden der Tatsachen zurückbrachten; denn eigentlich ist im Juli noch Winter auf der Südhalbkugel. Als ich mit mehreren Hosen und T-Shirts am Leib (im Koffer waren noch Geschenke für die Gastfamilie) und mit fast 15 Std. Flug und 3 Std. Wartezeit dem deutschen Herbst entflohen bin, wurde ich am Flughafen „Ezeiza“ in Buenos Aires von einem Mann der Partnerorganisation zu den anderen Austauschschülern geführt. Auf der Fahrt nach Rosario, in der die „Orientationweek“ stattfand, haben die meisten ihren Schlaf nachgeholt. Die Einführungswoche an sich war hilfreich und notwendig: Der Sprachkurs hat Spaß gemacht und Überwindungsarbeit gekostet, die Ausflüge haben einem erste Eindrücke der Umgebung vermittelt und die Unterkunft in einer Schule hat schon mal einige Konversationen üben lassen.
Mit dem Erscheinen der Familien begann ein Weg, der für mich elf Monate andauern sollte. Schon der erste Abend hielt ein kulturelles Highlight für mich bereit. Wie ich später erfahren sollte, traf sich meine Familie jeden Donnerstag mit Freunden zum ASADO. Es war einfach fabelhaft und ich konnte die erste Nacht ohne Probleme überstehen. Ich dachte, die essen nur wegen meiner Ankunft um 22:00 Uhr, und ich müsse am nächsten Tag nicht zur Schule…falsch. Um 7:00 Uhr unter den drei Decken (Frasada, Sabana, Cubrecama) hervorgekrochen und bloß einen ALFAJOR zu mir genommen.
In der Schule, in der wenigstens ein Kleidungsstück uniformell sein musste, wurde, anders als in Deutschland, die Flagge gehisst. Zwei Wochen vor Abreise durfte auch ich sie einmal hissen, da sich mein Schuldirektor bei der Nationalitätsfrage für mich stark gemacht hat. Aber auch beim Leben in der Schule ist eine Steigerung mit der Zeit zu sehen - nicht nur sprachlich, sondern auch sozial. Was das Sprachliche angeht, hatte ich von Tag 1 an einen fürsorglichen Mitschüler (am Ende bester Freund), der sich auf mein Vokabular eingestellt hat. Begriffe, die anfangs mit Händen und Füßen erklärt wurden, brauchten mit der Zeit nur noch Synonyme. Ein weiterer Vorteil war, dass ich mit meinem Gastbruder in eine Klasse ging. Der soziale Aspekt spiegelt sich durch neu gewonnene Freunde und den Mut, Gespräche selbst anzufangen, wieder. War ich im August noch sehr an meinen Bruder gebunden, wurde im September schon versucht, mich mit jemandem zu verkuppeln. Und in der Stadt ist jeder angehalten, um mich zu grüßen, und ich habe mich mit jedem Verkäufer erst unterhalten, bevor ich den Laden verließ. Es ist die OFFENHEIT der Argentinier, die zu Gesprächen einlädt; und dann spielt auch die Zeit keine Rolle mehr. Ich hatte einmal ein Termin bei einem Friseur und kam erst eine Stunde später dran. In der Zeit habe ich ihnen aus meinem Leben und von meinen Vorhaben erzählt. Alle haben meine Sprachfortschritte bewundert und Mama war nicht böse, dass ich später als erwartet kam.
In der Jugend ist es ähnlich, alle haben Verständnis, da ein Gespräch wichtig ist. Aber sie stellen auch Ansprüche auf die Freizeit der Freunde. Die meisten sind bei Facebook on und warten darauf, dass jemand etwas mit ihnen unternimmt. Wenn sie sich dann treffen sind alle Feuer und Flamme und vergessen jegliches Drumherum. Am häufigsten wird sich auf einer „Plaza“ versammelt, um zu kicken oder sich beim Kartenspielen (TRUCO, MOSCA, CHUPETE, uvm.) zu unterhalten. Nun wird entweder Geld zusammengelegt und sich eine COCA (man sagt nicht „Cola“, da es auch „Hintern“ bedeutet) und Sonnenblumenkerne gekauft oder es wurde MATE/TERERE mitgebracht, der nun die Runde macht. All dies gilt für den Normalfall einer Temperatur zwischen 25 und 40 Grad (je nach Jahreszeit).
Aber auch regnerische Tage (oder im Sommer: Nächte) lassen die FUßBALLNATION nicht kalt; ein BARROSO (barro=Schlamm), also Fußball im Schlamm, meist barfuß, lässt die Herzen der Mütter ohne Waschmaschine höher schlagen. Nachdem man also nach nur 5 Std. (in meinem Fall) Schule Nachhause kommt und nach dem Mittag die SIESTA (=Mittagsschlaf) hält, danach wie oben geschildert den Nachmittag bis in den Abend hinein verbringt und zwischen 21 und 22 Uhr mit dem Abendbrot beginnt, der schaut nur noch Fernsehen bis er einschläft.
Die Wochenenden bekommen eine Sonderstellung, da alle gut drauf sind (auch bei Regen) allein schon, weil keine Schule ist. Man schläft also aus – bis zum Mittagessen; verbringt den Nachmittag mit seinen Freunden und isst nicht so viel zu Abend, weil ab 3 Uhr morgens ja die BOLICHES=Discos öffnen. Jenes Event fällt aber zunächst in den Hintergrund, ist man zu einem 15. GEBURTSTAG eines Mädchens eingeladen. Diese können sich nämlich zwischen einer Party oder einer Reise ins Disneyland in den Vereinigten Staaten entscheiden. Jungs verbringen den Geb. oft wie jeden anderen Tag auch, nur laden sie die Freunde zu einer HAMBURGUESEADA (Hamburger werden selbst gegrillt) ein.
Außerdem spielt am Wochenende Fußball eine enorme Rolle. Ich wurde auf Einreden meines Bruders Fan von Newell’s Old Boys aus Rosario (1.-Ligist, der im Jahr 2012/13 zufällig Meister wurde). Wir haben jedes Heimspiel in Rosario im Stadion verfolgt und uns bei Auswärtsspielen bei unserm Vater zum Fernsehen getroffen. Aber auch internationale Ligen werden viel mehr als im deutschen Fernsehen wiedergegeben. Und so lernte ich in einem Jahr mehr über Fußball (und andere Sportarten auch) als in meinen 16 vorherigen Jahren zusammen.
Ich lebte in Casilda, in der Provinz Santa Fe, die mit Entre Rios, Buenos Aires und Cordoba eine der reichsten Provinzen ist. Ich unternahm eine Reise mit meiner Familie in den Nord-Westen des Landes (Salta, Jujuy, Tucuman, Santiago del Estero) und musste große Unterschiede feststellen. Es fiel sofort auf, als ich „El cerro de los siete colores“ (Den Berg der sieben Farben) sah und dann die Menschen die um ihn herum lebten: „Wo die Natur reich ist, sind die Menschen arm, wo die Menschen reich sind, ist die Natur arm“ Dies trifft für mich im groben Rahmen auf Argentinien zu; deshalb werden die Familien auch ausgewählt. Es wirkt sich jedoch keineswegs auf kulturelle Eindrücke, sprachliche Fortschritte oder allgemeine Bildung aus; denn im Endeffekt liegt es an jedem selbst – am Willen, an der Begeisterung und dem Interesse, an seiner Meinung und an seinem Talent. Mit meinen Erfahrungen kann ich nur einige dieser Sachen stärken, aber der Versuch ist es wert, euch davon zu überzeugen. Dass ein Jahr im Ausland in keinem Fall schadet, sondern sogar fördert, besonders menschlich, kann ich nun bestätigen.
P.S.: Zu den Sommerferien (Dezember, Januar, Februar) kann ich nur Tipps weitergeben: Denkt nicht mal im Entferntesten an Schule!!! Trefft euch zu ¾ der Ferien mit Freunden und lasst der Familie wenigstens ¼. Achtet darauf, immer ein Fluss, einen See oder ein Freibad in der Nähe zu haben. Erwartet nicht zu viel von der Kombination aus Sommer und Weihnachten bzw. Silvester. Pflegt die Verbindung zu Verwandten und Freunden, die ihr in der Schulzeit nur selten seht. Flip Flops oder Sandalen – sehr wichtig! Oder gleich barfuß (je nach Ort/Situation). Stellt euch auf lange Nächte ein (ich bin fast jeden Tag erst um 5 oder 6 Uhr ins Bett gegangen).